Prometheus‘ Schicksalsberg – Der mythische Kasbek in Georgien

Da ich in meinem vorherigen Blogeintrag über die Faszination von Bergwelten geschrieben habe, ergibt es Sinn, thematisch anzuknüpfen und ebenfalls über einen ganz besonderen Berg zu schreiben. Schon in der griechischen Mythologie fand der Kasbek nämlich Erwähnung und sollte das Schicksal des Titanen Prometheus auf ewig besiegeln.
Im Jahr 2018 durfte ich meine ganz eigene Erfahrung mit diesem 5000 Meter hohen, eisigen Biest machen, welche ich ein halbes Jahr später immer noch am eigenen Leib spüren konnte. Der Kasbek hat wahrlich seine Spuren hinterlassen.

Zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer erstreckt sich die Gebirgskette des Kaukasus über die Staatsgrenzen von Russland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und dem Iran. Sein höchster Punkt ist der Gipfel des Elbrus in Russland, 5642 Metern über dem Meeresspiegel. Im nördlichen Teil, dem sogenannten großen Kaukasus auf georgischem Staatsgebiet, findet man den 5033 Meter hohen erloschenen Vulkan, der von den einheimischen Qasbegi, bzw. Mqinvartsveri genannt wird. Übersetzt bedeutet das „Der von Eis bedeckte“. Wie ein Wächter ragt seine weiß bedeckte Kuppe über das Dorf Stepanzminda und der umliegenden Region hinweg.

Mqinvartsveri – Der von Eis bedeckte

In der griechischen Mythologie sind wir Menschen die Schützlinge des Titanen Prometheus. Bei einem Tieropfer überlistet er den Göttervater Zeus und überlässt ihm nur die wertlosen Teile des Tieres, während er das gute Fleisch für uns Menschen behielt. Völlig erzürnt nahm Zeus den Menschen zur Strafe wiederum das Feuer. Als Prometheus darauf hin den Göttern das Feuer entwendete und den Menschen zurückbrachte, ließ Zeus den Titanen in der Einsamkeit des Kaukasus an einen Berg festschmieden.

Der Mythologie nach soll dieser Berg der Kasbek gewesen sein. Jeden Tag kam ein Adler vorbei und zehrte von der Leber Prometheus‘, welche sich immer wieder regenerierte, bis Herakles ihn schlussendlich von seiner Qual befreite. Auch heute noch sind der Kasbek und seine Ausläufe ein heiliger Ort und verbunden mit religiöser Geschichte. Die im Kaukasus lebende Volksgruppe der Osseten nennt den Berg bis heute „Zeristi Jub“, was übersetzt Christus Berggipfel bedeutet. Zu seinen Füßen steht die Gergetier Dreifaltigkeitskirche, welche ein beliebtes Reiseziel und Ort der Andacht ist.

Bereits vor meiner Abreise hatte ich den hitzigen Entschluss gefasst, diesen Berg besteigen zu wollen. Meine romantische Vorstellung war es, so richtig in die Natur einzutauchen, eine verborgene Welt voller Schnee, Eis und zerklüftetem Fels kennenzulernen und über die Gipfel des großen Kaukasus hinweg auf die Welt zu blicken. Ich hatte ja keine Ahnung, was das in Wirklichkeit bedeuten sollte.

Der über alles wachende Kasbek – Blick aus Stepansminda
Trek zum Base Camp des Kasbek

 

Georgien – Ein Land voller Abenteuer

Es sind knapp 4 Stunden abenteuerliche Autofahrt von der Hauptstadt Tiflis bis nach Stepanzminda. Wer in Georgien generell schon mal mit einem Taxi oder der Marshrutka – den lokalen Minibussen gefahren ist, dem kann so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen. Selbst der Verkehr in Hanoi ist damit nicht zu vergleichen. Mit schwindelerregenden Geschwindigkeiten und randvoll besetzt, schießen diese meist in die Jahre gekommenen Minibusse wie Torpedos quer durch das Land. Es kommt schon mal vor, dass man sich mit 21 anderen Menschen in einen Ford Transit quetscht. Aus einer zweispurigen Straße werden grundsätzlich 3 gemacht, was bei regelmäßigen Überholmanövern richtig spannend werden kann. Jedes Mal, wenn Rinder oder Hunde auf die Straße rennen, schießt der Puls noch mal so richtig in die Höhe, besonders wenn bei einem Überholmanöver im Gegenverkehr ein massiver Lastwagen auf einen zusteuert. Nach jeder Fahrt bin ich gefühlt um 1 Jahr gealtert.

In weiten Teilen des Kaukasus hielt der Herbst langsam Einzug und ließ die Temperaturen in höheren Lagen in einen zweistelligen Minusbereich fallen. Dies führte dazu, dass es eine Menge Neuschnee gab, der zum einen die Gletscherspalten verdeckte und sich zum anderen auf die gefrorenen Eishänge legte. Wenn der Schnee anfängt zu schmelzen, rutscht dieser wie ein Brett auf der unterliegenden Eisschicht weg und kann zu gewaltigen Lawinenabgängen führen.

Im Nachhinein kam mir öfter zu Ohren, das georgische Bergführer sehr wortkarg sein sollen, dies kann ich nur bestätigen. Nachdem ich von meiner Agentur ausgestattet wurde, lernte ich meine russischen Expeditionsteilnehmer und unsere beiden Bergführer kennen. Es gab ein spärliches Briefing und schon ging es los. Wir fuhren in aller früh mit dem Geländewagen hoch zur gergetier Dreifaltigkeitskirche. Inzwischen wurde hier eine Straße gebaut, damit die Touristen leichter hinauf zur Kirche kommen. Der Weg dauert zu Fuß ca. 2 Stunden und geht steil bergauf. Was diese Maßnahme mit der Landschaft macht, veranschaulicht dieses Bild ganz gut.


Gergetier Dreifaltigkeitskirche – Stepanzminda – Georgien

Weg über die Gletscherzunge bei einem aufziehenden Blizzard


Eine ganz andere Welt

Bereits während des Aufstiegs zur Gletscherzunge des Kasbeks zeigte sich das Wetter von seiner vielfältigsten Seite. Über sanftes Grün schlängelte sich der Pfad die steilen Hügel hinauf bis zur Baumgrenze. Anfangs wehte nur ein starker Wind, der sich uns mit aller Kraft in den Weg stellte. Nach einer Weile jedoch verbündete sich der Wind mit einem heftigen Regenschauer und fing weiter oben schließlich damit an, gefrorenes Eis nach uns zu werfen. Innerhalb von Sekunden kann das Wetter umschlagen und zu einer plötzlichen Herausforderung werden. Bis hier her war ich allerdings noch ganz passabel ausgestattet, was nichts daran änderte, dass ich langsam etwas nervös wurde.

Über den unteren Gletscher ging es relativ überschaubar hinauf zu einem Geröllfeld, dass den letzten Anstieg zur Gletschermoräne markierte, auf der eine alte Wetterstation das Base-Camp bildete. Inzwischen ist aus dem Hagelschauer ein ausgewachsener Blizzard geworden, der über die nächsten 16 Stunden richtig an Fahrt aufnehmen und dem das ein oder andere Zelt noch zum Opfer fallen sollte. Ein bedrohliches Rauschen lag in der Luft und die schiere Kraft des Windes, die an einem zerrte ließ mich oben angekommen, eingeschüchtert in der anliegenden Wetterstation Zuflucht suchen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, worauf ich mich da eingelassen habe.

Zelt aufstellen im Schneesturm
Blick auf die Wetterstation und das Base-Camp


Der Blizzard wehte mit unfassbaren Geschwindigkeiten über die Gletschermoräne hinweg, auf der die alte Wetterstation errichtet wurde. Wer es autark angehen möchte, für den gibt es das klassische Base-Camp mit im Verhältnis wenig Müll und Exkrementen gleich nebenan. Es ist beeindruckend, dieses kleine Dorf aus Zelten inmitten von Felsen, Eis und Schnee dabei zu beobachten, wie es dagegen ankämpft, von den kräftigen Windböen weggefegt zu werden. Die Luft war voller Schnee und schränkte die Sicht enorm ein. Die Bergführer quartierten uns in einem der Bettenlager in der Wetterstation ein, wofür ich im Nachhinein ganz dankbar bin. Für diese Erfahrung war es damals noch zu früh.

In den nächsten 2 Tagen warteten wir auf die Erlaubnis des Berges, ihn besteigen zu dürfen und verbrachten die Vormittage mit der Akklimatisation. Tatsächlich war der eisige Riese gnädig und so ging es in aller Bergsteigermanier um 2:00 Morgens die Gletscherzunge weiter hinauf. Dutzende Stirnlampen bildeten eine Kette an Lichtern in der Ferne und deuteten im Dunkeln den Weg. Pünktlich zum Sonnenaufgang erreichten wir den Gletscherrücken, zogen unsere Steigeisen an und gingen in die Seilschaft. Die Luft war jenseits der 4200 Meter schon sehr dünn, dennoch fühlte ich mich gut und war euphorisch. Das goldene Licht des Sonnenaufgangs erhellte die Welt, die uns zu Füßen lag. Wir hatten bereits 4 Stunden Aufstieg hinter uns und noch mal weitere 4 Stunden bis zum Gipfel.

Sonnenaufgang auf 4200 Meter


Du hast es erst geschafft, wenn du wieder unten ankommst

Aufgrund des Neuschnees erreichten wir eine Stelle, an der die Spur bereits wieder zugeschneit war. Unser Bergführer tastete sich Schritt für Schritt nach vorne und hielt nach verborgenen Gletscherspalten Ausschau. Eine halbe Stunde später betraten wir die westliche Schulter des Berges, die mit ca. 45° Anstieg zum unteren Gipfelplateau führte. Der Wind peitschte mit Minusgraden um sich und seit längerer Zeit schon taten mir meine Hände vor Kälte weh, jedoch hatte ich den Schmerz bislang ignoriert. Inzwischen konnte ich aber kaum mehr greifen und als ich die Handschuhe auszog, sah ich auch warum. Der Schweiß war im Handschuh auf meiner Haut gefroren und färbte langsam meine Hände blau. Man gab mir zwei Wärmekissen und nach ein paar Minuten waren meine Hände wieder mit Leben gefüllt. Mit dem wiederkehrenden Gefühl allerdings gingen gleichzeitig Schmerzen einher, als steckten tausende Nadeln in den Händen.

Der hohe Schnee auf dem Steilhang sorgte zwar für guten Halt, hatte jedoch den Nachteil, wegzurutschen, sodass wir teilweise kleine Anhöhen überwinden mussten. In dieser Höhe fällt jeder Schritt schwer und das Hinaufklettern durch den Tiefen Schnee war ein heftiger Kraftakt. Auf halber Strecke wurde meine ursprüngliche Seilschaft aufgelöst, weil inzwischen beide Bergführer, die uns zur Seite standen, aus der Not jemanden wieder herunterführen mussten. Ich hatte die Chance, mich einer anderen 2er-Seilschaft anzuschließen oder die Option umzukehren. Stur und naiv wollte ich mir unbedingt beweisen, den Gipfel erreichen zu können. Unter Aufbringung all meiner Kräfte betrat ich um 10:20 Uhr von der russischen Seite aus den Gipfel des Kasbek.

Viel Zeit zur Freude blieb mir allerdings nicht. Nach Luft schnappend und völlig benebelt von der Höhe und Anstrengung versuchte ich, ein paar Fotos vom Gipfel aus zu schießen, als wir schon wieder absteigen mussten. Das Wetter deutete einen Umschwung an und Wolken füllten langsam die Täler. Ich war höllisch erschöpft und der Abstieg über die Tiefschneepassage raubte mir gefühlt die letzte Kraft. Kaum auf dem Gletscherrücken angekommen, standen wir im totalen Whiteout. Sämtliche Fußspuren waren verschwunden und schon nach 5 Minuten war es eigentlich unmöglich zu sagen, aus welcher Richtung wir gekommen sind oder wohin es geht. Ebenso wenig konnte man sehen, wo sich die Gletscherspalten befinden. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie die beiden anderen in meiner Seilschaft den Weg gefunden haben.

Der wichigste Muskel beim Klettern ist das Hirn – Wolfgang Güllich

Vor lauter Erschöpfung verlor ich im steinigen Gelände immer wieder den Halt und rutschte auf Schnee oder Eisflächen aus. Jedes Mal wieder aufzustehen verlangte all meine Kraft. Essen oder Trinken, um meine Energiereserven wieder aufzufüllen war so gut wie unmöglich. Ich konnte einfach nichts herunterschlucken, weil mein Körper sich weigerte, seinen natürlichen Funktionen nachzugehen. Meine Kehle war wie versiegelt. Bei jeder Pause wollten meine Glieder nur noch ruhen. Langsam überkam mich eine schreckliche Müdigkeit, die dem Gefühl von Betrunkenheit sehr ähnelt. Mit all meinem Willen musste ich dagegen ankämpfen, einzuschlafen. Man hätte mich nie wieder wach gekriegt. Die eisigen Minusgrade waren auf einmal egal, mein Körper ist ohnehin schon ausgekühlt. „So fühlt es sich also an, zu erfrieren?!“, dachte ich mir noch, bevor ich frustriert aufstand und weiter lief. Ich wollte nur noch schlafen!

Ein Auf- und Abstieg von jeweils 1350 Höhenmeter durch tiefen Schnee hat es wirklich in sich! Es liegt auf der Hand, dass ich alleine in dieser kalten, weißen Welt niemals eine Chance hätte, zu überleben. Ohne der erfahrenen Seilschaft wäre ich aufgeschmissen gewesen. Der Kasbek hat mir erlaubt, auf sein frostiges Haupt zu steigen, mich aber nicht gehen lassen, ohne mir vorher eine Lektion fürs Leben zu erteilen. Die Nerven in meinem linken großen Zeh sind teilweise abgestorben, sodass ich etwas mehr als ein halbes Jahr ein Kribbeln gespürt und kaum Gefühl in meinem Zeh hatte.
Noch tiefer hat sich diese Erfahrung allerdings in mein Gedächtnis gegraben und ein weiteres Mal den Wert des Lebens vor Augen geführt. Du bist zwar nicht alleine unterwegs, triffst aber alleine für dich eine Entscheidung und musst mit den Konsequenzen zurechtkommen. Wenn du Mutter Naturs Spielwiese besuchst, brauchst du einen starken Willen und Durchhaltevermögen. Du wirst höchst richterlich vor die Wahl gestellt, ob du dich schlafen legst und eventuell für immer die Augen schließt, oder ob du dich für das Leben entscheidest.

Blick vom Gipfel des Kasbek
Gebirgskette in Russland vom Kasbek aus betrachtet

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